Ab in die Küche, viele Hobbys bleiben uns ja nicht. Selbst die, denen sonst alles egal ist, trifft man jetzt im Feinkostladen. Im Moment haben wir allerdings nicht nur Zeit zum Kochen, sondern auch zum Nachdenken. Ein Ausflug in den Supermarkt kann dann schnell zum Labyrinth der falschen Entscheidungen werden. Jedes Angebot triggert unser Gewissen. Wie richtig können wir es überhaupt machen?
Lucy kocht nicht gerne. Bis auf ein paar Rezepte auf Tomatenbasis beherrscht sie eigentlich nichts. Das schmeckt dann zwar nicht schlecht, aber die Zeit investiert sie normalerweise lieber anderweitig. Heute jedoch erwartet Lucy zwei Freunde zum Abendessen und möchte kulinarisch mal was riskieren. Sie findet ein Kochbuch mit vermeintlich “einfachen” Rezepten und verliert sich. Alles erfordert mindestens drei Zutaten, von denen sie noch nie etwas gehört hat. Sie entscheidet sie sich für ein Rezept von ihrem Lieblingsaccount für mindful food von Lea-Martine.
In den letzten Wochen und Monaten hat Lucy viel Zeit auf Netflix verbracht. Es ging um gesunde Ernährung, Massentierhaltung, Ozeanplastik, den Klimawandel und alles, was einen sonst noch so bedrückt. Die Flut an apokalyptischen Botschaften löst bei ihr immer wieder die gleiche Reaktionskette aus. Zuerst schwört sie, ihr Leben von Grund auf zu ändern, “diesmal wirklich”. Ein paar Tage später merkt sie dann, dass Verzicht gar nicht so einfach ist, sie fühlt sich dem System ausgeliefert. Dann konsumiert Lucy munter weiter. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt aber. Das Wissen über alles, was man eigentlich gar nicht wissen will, wird in ein dauerhaft schlechtes Gewissen verwandelt, jeder Einkauf wird zum politischen Statement.
Lucy steht jetzt mit ihrer nicht recycelbaren OP-Maske im Supermarkt und atmet schwer. Die vielen Menschen mit Einkaufswagen im Rücken machen sie völlig verrückt. Zunächst geht es an der Gemüseabteilung vorbei. Es stellt sich die Frage Bio oder nicht Bio, also nach zwei Tagen wegwerfen, #foodwaste, oder doch lieber mit Pestiziden verseucht, #mybodyisatemple. Tomaten sind immer gut, leider in Plastik verpackt. Lucy denkt an die sterbenden Meereseinwohner, die auch nichts dafür können, dass sie nun mal gerne Tomaten isst. Heute lässt sie sie weg, genauso wie die Avocado, bedenkt man die 1000 Liter Wasser, die zweieinhalb Avocados verbrauchen, bis sie im Einkaufskorb landen. Lucy entscheidet sich für Blumenkohl, lokal, gesund und bis jetzt noch keinem Shitstorm zum Opfer gefallen.
Am Obststand entdeckt sie Erdbeeren. Erdbeeren im Herbst? Lucy versucht der Umwelt zuliebe auf Inlandsflüge zu verzichten, kauft dann aber Früchte, die da herkommen, wo sie jetzt gerne wäre? Nein, danke. Den Fußabdruck kann man sich sparen. Das Gleiche gilt für Bananen, Mangos, Ananas, Kiwis und sowieso alles, worauf sie gerade Lust hat. Sie versucht eine Liste von saisonalen Früchten aus der Umgebung zu finden, die Internetverbindung im Supermarkt ist aber schlecht. Äpfel kann sie nicht mehr sehen.
Wer mal ein Video von der PETA gesehen hat, weiß, dass Kuhmilch nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Spätestens aber seit eigentlich alle Millennials laktoseintolerant sind, ist das Thema vom Tisch. Lucy greift zur Hafermilch, zieht dann aber wieder zurück. Ihr ist zu Ohren gekommen, dass Ihre Lieblingsmarke Oatly jetzt zu Blackstone gehört. CEO von Blackstone ist wiederum Stephen Schwarzman, der wiederum Trump Unterstützer ist. Ein Skandal, den Lucy mit ihrer politischen Einstellung nicht vereinbaren kann. Oatly wird sowas von gecancelt, willkommen im 21. Jahrhundert.
Lucy bewegt sich weiter Richtung Tod, Ausbeutung und CO2 Ausstoß. Vorbei geht es an Schweinenackensteaks für 1,99€, die, wenn sie noch leben würden, intelligent, selbstbewusst und emphatisch wären. Es folgen die Hühner, die mehr Hormone zu sich nehmen als jede Frau zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Dann nimmt Lucy den Endgegner ins Visier. Das Rind. Wenn jeder Mensch einen gleich großen ökologischen Fußabdruck hätte, dann würde Lucy ihr CO2 lieber für ein Auto aufwenden, nicht für eine schlecht behandelte Kuh.
Beim Fisch wird es nicht besser. In einer Reportage über die Lachszucht in Norwegen musste sie angeekelt feststellen, dass diese nicht nur unser Ökosystem zerstört, sondern auch mit den grauenhaftesten Krankheiten zu kämpfen hat. Der vom Aussterben bedrohte, bis oben hin mit Schwermetallen vollgepumpte Thunfisch scheint ebenfalls keine Alternative zu sein. Und auch Tofu wird gecancelt, vor allem, weil sich die Liste der Inhaltsstoffe meist über die gesamte Verpackung erstreckt, #processed.
Am Süßigkeitenregal muss sie sich an folgende Szene erinnern: vor ein paar Wochen sitzt ein Mädchen mit aufgeklapptem Laptop in einem Berliner Szene-Café. Auf ihrem Laptop klebt ein Sticker mit der Aufschrift: SUGAR KILLS. Ob das so gemeint ist, wie es da steht, oder ob es um den Boykott von Zuckerrohr mit politischem Hintergrund geht, weiß sie nicht.
Das alles hat Lucy die Laune verdorben. Nicht mal Duschgel (in Plastik verpackte Mikroplastik) und Küchenpapier (RIP Regenwald) möchte sie kaufen. Beim nächsten Mal geht es in den Bioladen, dort kann sie dann für wenige hundert Euro mit einem besseren Gefühl einkaufen gehen. Verzweifelt und genervt steht sie an der Kasse, in ihrem Wagen befindet sich ein Blumenkohl.
Was ist richtig und was ist falsch? Letzteres lässt sich zumindest einfacher beantworten. “Kurz einkaufen gehen”, das funktioniert nicht mehr. Der Gang in den Supermarkt ist immer mehr zum Signal geworden. Denn es geht um Angebot und Nachfrage, jeder Kauf zählt, wir können nicht immer darauf hoffen, dass die anderen vernünftig sind. Natürlich können wir auch nicht alles canceln, aber wo fangen wir an, welches Thema gilt es zu priorisieren? Geht es uns um uns und unseren Körper, um die Umwelt oder um faire Tierhaltung? Versuchen wir alles gleichzeitig zu lösen, kostet uns das vor allem eine Menge Zeit. Und es macht uns verrückt. Verantwortung zu übernehmen und dabei trotzdem noch auf sich zu achten, das ist gar nicht so einfach. Wie bei allem gilt es die Balance zu finden. Und wie bei allem ist das am schwierigsten.
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