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sunshinin'

Der Sommer steht vor der Tür, bei manchen ist er schon da und mit dem Sommer doppelt sich dann auch der Lebensraum (drinnen x draußen) und damit die gefühlte Freiheit. Kommt noch ein Urli dazu, vervielfacht sich diese Freiheit unter Einhaltung von Zeiträumen und Budgetrestriktionen sowie moralischen Grenzen zwar nicht ins Unendliche, aber im Schnitt immerhin von Brandenburg bis Mallorca.



Koffer auf, SPF 100er Vampir Creme rein und Tschüss Bad-vibe-istan, denn “alle sind so schlecht gelaunt hier”, sagen alle.


Alle freuen sich auch auf Frühstück statt Intervallfasten, Cappuccino statt Filtercafé, neue Gesichter statt Spiegelbild, fremde Leben, mittelfremde Welten, Sand und Stein und Wasser und Wiesen, mal mehr Müll, mal weniger. Außen alles anders, innen alles gleich.


Portugal. Auch Lucy liegt jetzt am Strand, sehnt sich nach Langeweile, doch Langeweile gibt es nicht. Neben ihr: ein Eltern-Couple, vermutlich aus Hildesheim, vermutlich in Berlin lebend, mit Sicherheit in einer Agentur arbeitend, Verdacht auf Patchwork, essend, trinkend und viel spannender: sprechend. Die beiden können nur Anja und Till heißen. Auch dabei: zwei bildschirmzeitregulierte Kinder, auf den ersten Blick Mädchen und Junge, vermutlich zwischen 6 und 12. Sie schwimmen nicht, spielen nicht und werden durchgehend von ihren was die Kleiderordnung betrifft “lässigen” Eltern in Unterhaltungen verwickelt.


Ihre definitiven Namen: Fritz und Filippa. Immer wieder müssen die beiden “Learnings” mit ihren Deep Talk Eltern teilen. Als Fritz dem ernsthaften Strandtag durch — von außen betrachtet — grundloses Heulen zu entkommen versucht, wettert evtl.-Till: “Deine Dynamik gefällt mir gar nicht.”


Schnell ist klar, diese Eltern sehen ihre Kinder als Projekt. Sie pitchen einen Samen, providen ein Ei und launchen eine Selektion an Nachkommen. Timeline bis zum 18. Geburtstag steht, unvorhergesehene Ereignisse unerwünscht, Geburtstagskuchen zuckerfrei, damit der Outcome sich gar nicht erst daran gewöhnt (schlau).


Ständig muss irgendwas besprochen werden, aka. die Eltern labern ihre Kinder voll, das kommt ja auch nicht so oft vor. Dann, der Super-Gau. Zwischen Senderin Filippa und Empfänger João (einem ziemlich offensichtlich nicht deutschsprachigen Eisverkäufer) kommt es zur Fehlkommunikation. Besonders spannend: der Prozess (der Eisbestellung), Till und Anja beginnen intensiv zu reflektieren. “Was macht das jetzt mit ihr?” Nicht zum ersten Mal scheinen sich Fehler in einen von Filippa initiierten Bestellprozess eingeschlichen zu haben. Merkwürdig. Diskussionswürdig? Gespräch für alle deutschsprachigen ebenfalls-Urlauber hörbar — würdig? Gar dringlich? Till und Anja besorgt, Filippa (jetzt mit 3 statt 2 Kugeln Eis) — einfach clever?


Zwei bemühte Eltern in Interaktion mit ihrem Pracht-Outcome: gefundenes Fressen für das Nudel-Strohhalm-Cocktails schlürfende, Kartoffelchips inhalierende, Affogato lutschende Publikum, das es seit einer Woche nicht über Seite 3 ihres “Schlau investieren, obwohl du eine Frau bist” — Ratgebers hinausgeschafft hat. Urlaubs-Voyeurismus lohnt sich gleich doppelt, denn: 1. Neue Themen beim Abendessen und 2. Fremde Probleme wirken grundsätzlich banaler als die eigenen, eine prima Ablenkung vom nächsten Personalgespräch und dem ganzen Weltschmerz, der vor lauter Meerblick ja total intensiv ist.


Einfach mal durch analoge Fenster schauen, die angenehm ernüchternde Wahrheit sehen, statt Tag für Tag digitale Lebenslügen zu konsumieren, denkt auch Lucy, während sie ihre Beobachtungen kuratiert. Jeden Tag so eine Szene, dann den Koffer voller Geschichten aufs Gepäckband hieven und zurück nach Bad-vibe-istan, wo alle sagen, dass “alle immer so schlecht gelaunt sind”.

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