Es ist wieder Frühling. Was vor einem Jahr zu viel war, ist heute zu wenig: das Gefühl von Freiheit. Für viele Millennials startete der Lockdown nicht als Gefängnis, sondern als Zwangskur. Doch auch die muss irgendwann enden und es bleibt die Frage: Fängt bald alles wieder von vorne an? High sein, frei sein, dabei sein, die nächste Fahrt geht rückwärts.
Es folgen Fragen ohne Antworten
Vor nicht allzu langer Zeit hat Lucy Kurztrips als Zumutung empfunden. Reizüberflutet und gesättigt ärgerte sie sich über Einladungen, das Gefühl der quasi-unbegrenzten Optionen war ihr lästig. Ständig jagte sie Erlebnissen hinterher, immer mehr und immer weiter. Die Ursache für ihre Vergnügungssucht war schnell identifiziert: Ablenkung vom stressigen Job, von unerfüllten Träumen, von Zukunftsängsten. Lucy wollte sich lebendig fühlen. Aus lebendig wurde jedoch ein Zustand permanenter Erschöpfung, die ganze Mühe bewirkte wohl das Gegenteil, Selbstdiagnose: Freizeit-Burn-out. Der Stillstand kam nicht unpassend. Wann haben wir verlernt, auf unser Bauchgefühl zu hören?
Ein Jahr später, wer hätte es gedacht, findet Lucy nichts verlockender als einen Randzeitenflug nach Mallorca oder wie der Ballermann-traumatisierte Instagrammer sagt, auf die Balearic Islands. Zwischen schwitzend-hustenden Mitmenschen mit viel zu viel Handgepäck in der Strandschlange Richtung Cocktails. Hätte Lucy unter der Last der Luxusprobleme etwa doch noch einen Moment verweilen können? Wahrscheinlich schon. Aber das kann man ja vorher nicht wissen, der Fehler am eigenen Leben ist schnell gefunden. Zu viel von allem ist schlecht, zu wenig aber auch. Das Einzige, was schlimmer ist als Freizeitstress, ist kein Freizeitstress. Können wir die Balance nicht finden oder sind wir dauerhaft undankbar?
Apropos Balance. Erstaunt stellt Lucy fest, dass ihre Millennial-Bubble sich auch in Gefangenschaft stetig weiteroptimiert. Besonders makaber: Stimmen, also Experten, in letzter Zeit ständig von der Presse zum Thema Homeoffice-Bewältigungsstrategie befragt, raten zu einer besonders strengen Einhaltung von Routinen. Das erinnert Lucy an: Kinder brauchen Regeln. Eine besondere Bedeutung wird der ohnehin schon sehr populären Morgenroutine beigemessen, früher sagte man dazu Frühsport und Kaffeetrinken. Lucy lehnt diese selbst aufoktroyierten Zwänge ab. Eines, und das wussten wir schon vor der Pandemie, ist nämlich besonders heimtückisch: Wird die Routine einmal unterbrochen, startet der Tag mit einem Gefühl des Scheiterns. Ähnlich verhält es sich bei Kindern. Brechen sie die Regeln, gibt es Ärger. Und das kann im Moment wirklich niemand gebrauchen oder?
Hoffnung gibt es ja immer mal wieder. Mit dem Frühling kam zumindest ein erstes Gefühl der sozialen Wiedergeburt. Solidarität und Vernunft wichen dem Drang nach Umarmungen. Das Leben ging für einen Moment wieder los, so fühlte es sich jedenfalls an, raus auf die Straßen, in die Läden und ja, auch zum Friseur. Doch dann wurden richtig und falsch nochmals verkompliziert, alles ist ziemlich unklar. Unwissen trifft auf deprimierte Gemüter, passiv lassen wir uns durch die Pandemiewellen treiben. Ungeimpft, emotional verkümmert, ja bald schon seelisch verwahrlost, warten wir auf Godot, gemeinsam. Wie lange geht das noch?
Toleranter sind wir zumindest nicht geworden. Urlauber werden von Nicht-Urlaubern getadelt, solange diese nicht selbst verreist sind. Zudem wird nicht mehr nur zwischen Corona-Vorbildern (man macht nichts und sieht niemanden) und Corona-Leugnern (alle anderen) unterschieden. Ab sofort gibt es die Vernünftigen, die halbwegs-Vernünftigen, die, die mal eine Ausnahme machen, die Leichtsinnigen, die Egoisten und die Leugner. Eine richtige Challenge, stecken wir unsere Mitmenschen doch so gerne in Schubladen. Ist es die Krise, die uns an unsere charakterlichen Grenzen treibt oder ist es der wahre Charakter, der in Krisensituationen zum Vorschein kommt?
Heute sitzt Lucy beim Zahnarzt und freut sich darauf, neue Leute kennenzulernen. Es ist ihr erster Besuch in dieser Praxis. Die Angst vor dem Bohrer weicht der Begeisterung für das Treiben, Lucy darf sogar die Maske abnehmen. Schnell lächelt sie, bevor es wieder vorbei ist. Fremde sehen ihr mitten ins Gesicht. Die Frage “wie geht es Ihnen” beantwortet Lucy mit einem ausführlichen Monolog zu ihrer Person, kurz lässt man sie gewähren, solche Patienten scheinen im Moment öfter vorzukommen. Es ist schwer vorstellbar, dass das Leben irgendwann wieder losgeht. Sollte sie gleich noch einen Termin machen oder wird sie bald wieder Freunde sehen?
Lucy gehört zu einer der privilegiertesten Leidensgruppen der Pandemie: jung, gesund, kinderlos, fertig ausgebildet, viele Parties gefeiert. Trotzdem hat sie keine Lust mehr, jeden Satz mit, “ich weiß ja, dass es anderen schlechter geht” zu beginnen. Natürlich weiß sie das. Aber Wohlbefinden ist subjektiv, Vergleich sinnlos. Und wenn wer es gerade subjektiv schlecht hat, merkt erst, wie gut er es doch hatte. Lucy hat Angst. Vor Corona, vor Einbrechern, vorm Fliegen, ganz besonders fürchtet sie sich vor Schlangen. Heute hat sie erfahren, dass ihr Nachbar zwei Schlangen hat. Es ist wird Zeit, dass sie hier rauskommt.
Im Hintergrund läuft der Song “Get Get Down” von Paul Johnson, seit einem Jahr im Remix:
Lock us…
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