New York ist die Stadt, die niemals schläft. Berlin aber ist die Stadt, in der niemand schläft. Normalerweise. Im Kampf gegen den unsichtbaren Feind kehrt für kurze Zeit Ruhe ein. Berlin ist im Freeze. Es ist eine merkwürdige Zeit, wir erleben nichts, aber trotzdem leben wir. Denn auch einen Monat ohne Programm kann man nicht einfach verschlafen. Heute erinnert sich Lucy nicht an durchfeierte Nächte und auch nicht an ihre Freiheit oder ans Reisen. Heute lebt sie den Tag, wie er kommt. Berlin schläft.
Lucy wacht auf. Kein Wecker klingelt. Es ist 11 Uhr, sie ist jetzt ausgeschlafen und kann so lange liegen bleiben, wie sie möchte. Noch bevor sie ihre Augen öffnet, weiß sie, wo sie ist und was sie heute vor hat, nämlich nichts. Sie hat keine Verabredungen und alle anderen auch nicht. Die Vorstellung beruhigt sie. Das Handy kann sie erst mal ausgeschaltet lassen, es sind keine dringenden Anrufe und keine Berichterstattung von gestern Abend zu erwarten. Lucy springt auf, öffnet alle Fenster, läuft in die Küche und kocht Tee.
Zurück im Bett zündet sie eine Lavendelkerze an, nimmt die Zeitung von letzter Woche in die Hand und befiehlt Alexa “Klassikradio” zu spielen. Eine halbe Stunde lang kommt sie sich wahnsinnig intellektuell vor, dann wird ihr langweilig. Während des Lesens schweifen ihre Gedanken immer wieder ab, jedes geschriebene Wort ist ein Trigger. Sie denkt darüber nach, wie stolz sie ist, mal wieder eine Zeitung in den Händen zu halten. Statt sie einfach zu lesen. Lucy, Teil der Generation Goldfisch, weiß, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne in den letzten Jahren gelitten hat. Im Durchschnitt liegt diese bei acht Sekunden, die eines Goldfischs bei neun. Von Facebook über Snapchat zu Instagram, vom Wort, zum Foto, zum Video: Digitale Demenz ist jedem Millennial ein Begriff. Lucy liest noch zwei Artikel, deren Inhalt sie in kürzester Zeit wieder vergisst, dann beendet sie ihren bildungsbürgerlichen Streifzug in die analoge Welt und greift zum Handy. Dort findet sie alles, was sie wissen muss komprimiert und im Audioformat.
Kurz ist sie versucht, ihre #morningsituation für Instagram festzuhalten, lässt es dann aber. Die Sonne scheint, im Lockdown kann man nicht viel, aber man kann raus. Lucy beschließt, sich zu zivilisieren. Frühstück und Duschen fallen länger aus als geplant, stressen muss man sich in dieser Zeit nun wirklich nicht. In Active Wear, aber ohne die Intention Sport zu machen, verlässt sie die Wohnung. Demografisch befindet sie sich jetzt zwischen Eltern der Altersklasse 35 bis 45, die Ihre Kinder ohne Helm Fahrradfahren lassen und Masken im Geschäft für überbewertet halten. Geografisch befindet sie sich in Berlin, Prenzlauer Berg.
Die Straßen sind nicht voll und nicht leer, aber leerer als sonst. Während die Stimmung unmittelbar vor dem zweiten Lockdown im Keller war, kann Lucy den Vibe an diesem Samstagmittag schwer einschätzen. Sie selbst ist entspannt, ein bisschen gelangweilt, aber nicht missmutig. Dann laufen zwei Menschen mittleren Alters, vermutlich ein Paar, mit aggressivem Gesichtsausdruck an ihr vorbei. Der Mann trägt einen grauen Zopf und schreit seine rauchende Frau an, sie scheinen aus einer Bäckerei zu kommen: “Na bei der Arbeitseinstellung sage ich nur LECKO MIO!”. Lucy schmunzelt, Stimmung eingefangen.
Weiter gehts, vorbei an Cafés, vor denen sich sonst Schlangen bilden, die einem immer das Gefühl geben, im falschen Laden zu sein. Jetzt sind sie zu. Normalerweise findet sie Brunch Dates anstrengend, gerade aber wünscht sie sich nichts sehnlicher, als vor einem Kurkuma Latte zu sitzen. Das Gleiche gilt für Sport. Wochenlang hat sie sich davor gedrückt, ins Gym zu gehen, jetzt fühlt sie es. Heute wäre ein guter Tag, um Sport zu machen.
Lucy bekommt einen Anruf. Für einen Spaziergang um den Grunewaldsee zieht es sie in den Westen. Am vollen Parkplatz wird ihr klar, warum die Straßen so leer sind. Sie sind alle hier. Jeder, der am Freitag ins Borchardt geht, läuft jetzt um den Grunewaldsee und außerdem sind die, die Hunde haben immer noch da, eine Völkerwanderung. Lucy hätte doch eine richtige Hose anziehen sollen. Zwei Runden um den See gehen schnell vorbei, vor allem, weil man sich danach nirgendwo hinsetzen kann. Sie quatscht noch ein bisschen im Auto, wo auch sonst, die Stimmung ist okay. Es folgt ein kurzer Abstecher in die Supermarktschlange, die Lockdown Köche brauchen Stoff. Kürbisse sind ausverkauft, vielleicht kann man daraus Klopapier herstellen.
Lucy ist schnell wieder zu Hause, weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Es gibt ja immer irgendwas zu tun, aber eben nichts, was kickt. Sogar die US-Wahlen sind jetzt langsam entschieden, ein seltenes Vergnügen in der Entertainmentflaute. Einen zweiten Joe Exotic hat man noch nicht inszenieren können, schade. Was sich im März wie ein Abenteuer anfühlte, wie ein Escape Room für die ganze Welt, lässt man jetzt resigniert und lethargisch über sich ergehen. Als hätten alle ihre Energie schon damals, zumindest fühlt es sich wie “damals” an, im ersten Lockdown verbraucht, die Spannungskurve konnte nicht aufrecht erhalten werden.
Lucy sitzt in ihrem Wohnzimmer. In zwei Stunden kommt eine Freundin zum Abendessen, um mit dem Kochen zu beginnen, ist es noch zu früh, außerdem hat sie keine Lust. Die Zeit ist auf ihrer Seite, nur kann sie das gerade nicht schätzen. Es ist Samstag Abend, oder doch Sonntag? Aus den Lautsprechern dringt Musik, der Song könnte passender nicht sein:
Lemon Tree by Fools Garden
I’m sittin’ here in the boring room It’s just another rainy Sunday afternoon I’m wasting my time I got nothin’ to do I’m hangin’ around I’m waitin’ for you But nothing ever happens and I wonder…
コメント