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Der Wolf im Gutmenschpelz

Interessiert beobachtet der Wolf eine junge Mutter im Zug, die Schwierigkeiten hat, ihren Koffer in der Gepäckablage über dem Sitz zu verstauen. Dabei leckt er sich genüsslich die Pfoten und findet immer wieder Reste hartgekochter Eier unter seinen Krallen. Das “Frohe Ostern” des Schaffners beantwortet er mit einem strafenden Blick, im Fenster rennen die nackten Bäume an ihm vorbei. Was für ein beschissener Tag. 



Circa 8000 km von Camps Bay entfernt läuft Lucy die erste Gassirunde durch den Berliner Sprühregen. Ein Leben in der Waschanlage, findet auch ihr Hund. An jeder Ecke bückt sie sich nach seinem entweder zu weichen oder zu harten Kot, das wird sich schon wieder einpendeln, der Hund ernährt sich nämlich seit Neuestem vegan, das kommt dem Fußabdruck der gesamten WG zugute. Danke, Hund. 


Der Wolf wartet darauf, seinen verspäteten Zug am Berliner Hauptbahnhof zu verlassen. Wieder steht die junge Mutter vor ihm, diesmal hält sie den gesamten Wagen vom Ausstieg ab, indem sie ihren Kinderwagen ungeschickt über die Schwelle hievt. Genervt nimmt der Wolf das Spektakel zur Kenntnis. Erst als sich dann auch noch ein älterer Herr vor ihm langsam verhält, beginnt er passiv aggressiv zu stöhnen, drängeln aber, das traut er sich nicht. 


Unterdessen lassen sich Lucy und der Hund einen €5,50 Kaffee in den Recup Becher füllen. Ein schönes Ritual, meditativ und teuer, es lohnt sich. Lucy ist begeistert, fast euphorisiert von all der positiven Energie, fotografiert — smile — sich und den Hund, wünscht ihren Followern “Frohe Ostern” und ermahnt sie, lieb zueinander zu sein.


Der Wolf nimmt eine weitere Bahn, dann einen Bus Richtung Prenzlauer Berg. Ostern bei seiner Öko-Bobo-Schwester, super. Verärgert füllt er sein Fahrgastrechte Formular aus und weil in dieser schmutzigen Stadt alles ewig dauert, hat er noch Zeit, seine Osterkarte zu schreiben. Der Wolf schreibt keine Osterkarten, aber an diesem Schmankerl konnte er nicht vorbeigehen. Er hat sie in einem Geschenkladen in München-Schwabing gefunden, ganz schlicht, nur ein rotes Wort auf weißem Untergrund: Männer:innen. Fabelhaft. Und da sagt mal einer, die Deutschen hätten keinen Humor.


Lucy und der Hund haben es nicht eilig. Sie stehen an einer besonders hässlichen, unangenehm dicht befahrenen Kreuzung, um von einem final gentrifizierten Prenzlauer Berger Wohnviertel ins nächste zu spazieren. Neben ihnen parkt ein Bus, Schienenersatzverkehr. Eine Frau, nicht jung und nicht alt, steht an den Tramgleisen auf dem Mittelstreifen, sieht den Bus und rennt los. Sie stürzt, kugelt ein wenig und bleibt auf dem Bordstein liegen. Lucy und der Hund stehen ca. 30 Meter von der Situation entfernt. Nicht weit weg, aber auch nicht unmittelbar daneben, zumindest stehen einige näher dran, andere weiter weg. Lucy stockt der Atem. Frau auf Asphalt. Es sieht nicht dramatisch aus, aber schon etwas verheddert und offensichtlich hat die Frau Probleme hochzukommen. 


In Persönlichkeitstests schneidet Lucy als teamfähig, emphatisch und hilfsbereit ab. Sie nimmt der jungen Mutter den Koffer ab, isst schon lange keine Eier mehr, auf “Frohe Ostern” antwortet sie stets mit einem breiten Lächeln und dem vollständigen Satz “Das wünsche ich Ihnen auch.” Sie steht auf, wenn ein älterer Mensch die volle Bahn betritt, bückt sich, wenn jemandem der Pulli runterfällt. Jeder Tag ist ein schöner Tag.


Die Frau. Für ein paar zu viele Momente bleibt Lucy stehen. Tut nichts. Gedanken rennen an ihr vorbei, es ist wie in dem Zug, der durch den Wald fährt, keinen der nackten Bäume kann sie vollständig erfassen. Alles fühlt sich jetzt schneller an, ihre Gefühle befreien sich aus der Alltagsträgheit, etwas drückt aggressiv von innen nach außen, gegen die Haut und lässt sie brennen. Ungefähr sieben Sekunden sind vergangen und Lucy tut weiterhin nichts. Dann denkt sie einen sehr unschönen Gedanken, bzw. fragt sich eine sehr unschöne Frage und zwar die, ob diese Situation sie jetzt wirklich braucht. Jemand würde schneller sein.


Da öffnet sich die Bustür und Lucy und der Hund trauen ihren Augen nicht, denn da steigt ein Wolf aus, ein fieser, haariger Wolf, ein Menschenfeind, der eine Postkarte zwischen den Krallen trägt, und er rennt über die dicht befahrene Straße, schlängelt sich zwischen den Autos durch, zwingt sie, abzubremsen, bleibt vor der Frau stehen, streckt seine Pfote aus und hilft ihr auf die Beine. Sie bedankt sich und der Busfahrer, ja der wartet, bis der Wolf und die Frau gemeinsam in den Bus steigen.


Verwirrt und voller Scham bleibt Lucy in der Situation zurück, während der Bus die Türen schließt und wegfährt. Ein guter Mensch sein. Was heißt das eigentlich? Und da kackt ihr der Hund auch schon wieder vor die Füße, diesmal so flüssig wie ihre gestrige Thermomix-Bolognese, unmöglich kann sie diese braune Soße aufheben. Und dann machen sie sich auf den Heimweg, Lucy und der Hund und leider hat sich der Kaffee schon mit dem Sprühregen vermischt und deshalb laufen sie mit dem vollen Kaffeebecher nach Hause, den sie ohne einen Schluck davon getrunken zu haben, ins Waschbecken kippen.





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