Frequent Traveller haben es schwer in diesen Tagen. Alles, was ihre rastlosen Herzen mit Vorfreude erfüllt, wird von der Pandemie gecancelt. Sie verzichten auf Kurztrips und Familienbesuche, Hochzeiten werden auf den engsten Kreis reduziert oder gleich abgesagt. Es gibt kaum noch Gründe oder gesellschaftliche Akzeptanz dafür, die Stadt zu verlassen. Was der Umwelt guttut, schmerzt der Millennial Seele. Wirklich?
Locked. Lucy hat Berlin monatelang nicht verlassen. Vor einem Jahr noch hatte sie Heimweh nach der Stadt, in der sie von Montag bis Freitag lebt. Ihre Wochenenden waren vollgepackt und durchorganisiert. Lucys Freundschaften ziehen sich durch Europa und darüber hinaus. Vermissen musste man niemanden, ein kurzer Besuch war einfach und billig.
Ihr Job ist stressig. Von Montag bis Freitag ist Lucy angespannt, Projekte und Deadlines nimmt sie mit nach Hause. Sie ist nie fertig, auf ein erledigtes To-Do folgen zwei neue. Ihre Freizeit plant sie sorgfältig, versucht so viele Highlights wie möglich unterzubringen. Denn ohne den ständigen Strom hat sie das Gefühl, nicht genug zu leben. Im letzten Jahr trieb es Lucy immer wieder aus der Stadt. Aber auch die vermeintliche Abwechslung wurde zur eng getakteten Routine. Wünscht sich Lucy diese Zeit wirklich zurück? Sie erinnert sich an ihre letzte Reise, ein Besuch in London:
Donnerstagabend, 22 Uhr. Lucy kommt vom Sport nach Hause, schmeißt ihre Tasche in die Ecke und ist wie immer gestresst. Für den Endorphin-Flash war sie nicht lange genug auf dem Laufband, schließlich muss sie noch packen. Morgen fliegt sie zu einer Freundin nach London, Freitag bis Sonntag keine Urlaubstage geopfert. Zwar packt sie inzwischen routiniert, trotzdem dauert es jedes Mal länger als gedacht. Im Anschluss wird das Chaos wieder beseitigt, die Wohnung aufgeräumt. Niemand möchte am Sonntagabend schmutzige Teller und alte Bettwäsche sehen. Lucy schläft schlecht.
Freitagmorgen, 6.30 Uhr, der Alarmton “A Little Party Never Killed Nobody” reißt sie unsanft aus dem Tiefschlaf. Um guten Gewissens den 18 Uhr Flug nehmen zu können, muss sie früher ins Office. Draußen ist es noch dunkel, auf gar keinen Fall darf sie Pyjama und Zahnbürste vergessen. Sie vergisst beides. Letzter Check, dann los. Koffer, Tasche, Mantel, Schlüssel, Handy, Geld, Müll, abschließen. Pass vergessen, wieder aufschließen, wieder abschließen, nicht die Treppe runterfallen. In der Tram ist es eng, warm und feucht, dabei hat es gar nicht geregnet. Mit ihrem Horizn Trolley in dark olive und dem dazu passenden Weekender nimmt sie zwar zum Ärger der anderen Fahrgäste viel Platz ein, sieht dabei aber ziemlich cool aus.
Berlin Tegel (RIP TXL). Gehalten wird leider nicht da, wo alles schön schnell geht, sondern am Terminal C, wo Flüge unter 100€ kosten. Natürlich ist es voll, Berlin im Herbst, Freitag Abend, alle wollen weg. Die Schlange an der Security ist lang, aber machbar, noch 15 Minuten bis Boarding. “Haben Sie Flüssigkeiten im Gepäck?” Ups. Koffer auf, alles auspacken, umsortieren, wieder einpacken. Noch 10 Minuten bis Boarding. “Haben Sie elektronische Geräte im Gepäck?” Wieder Koffer auf, Laptop raus, Koffer zu. Wütende, ebenfalls gestresste Mitreisende hinten in der Schlange werden unruhig und beginnen das Geschehen zu kommentieren. Ihr ist warm, sie wird rot. Denn Lucy hat nicht nur einen dicken Mantel, sondern auch die zwei Pullover an, die nicht mehr in den Koffer gepasst haben. Endlich geschafft, ihr Parfum musste sie dalassen, ihr ist jetzt alles egal, 5 Minuten bis Boarding.
Lucy hat Durst, aber keine Zeit. Sie rennt mit Koffer, Tasche, Mantel, Laptop und mobiler Bordkarte in der Hand Richtung Flugzeug. Die einzige, die sie jetzt noch aufhalten kann, ist die gemeine Frau am Gate. Sie wartet nur darauf, ihr noch mal den halben Ticketpreis für ein zusätzliches Handgepäckstück abzunehmen. Doch heute bleibt Lucy verschont. Stattdessen klebt man ihr den verhassten, orangefarbenen Klebezettel an den Griff. Der Koffer bleibt hier.
Im Flugzeug schlängelt sie sich durch genervte Passagiere mit Kopfhörern, um noch einen Platz für ihr Handgepäck zu finden. Nichts zu machen. Ihr ist jetzt nicht mehr warm, sie glüht.
Endlich erreicht sie ihren Platz, 25B, unglamouröser kann man nicht reisen. Am Gang sitzt ein Geschäftsreisender mittleren Alters, der gleich seinen Laptop einschalten wird und sie strafend mustert, weil er noch mal aufstehen muss. Am Fenster ein Teenager, offenbar Teil einer Klassenfahrt, worüber er sich auf dem Sitz kniend mit seinen Freunden in Reihe 26 austauscht. Der Pilot meldet sich zu Wort. Wegen schlechten Wetters am Zielort verschiebt sich die Abflugzeit um 30 Minuten. Aus 30 Minuten werden anderthalb Stunden am Boden, bei geschlossenen Türen ohne Service. Ihre Kopfhörer liegen noch im Büro.
Dann geht es los. Während alle anderen Menschen vor sich hindösen oder wenigstens die Augen geschlossen halten, versucht Lucy sich von ihrer Flugangst abzulenken. Einatmen, ausatmen, heiß, kalt, heiß, kalt. Kurz nach dem Start gibt es einen Windstoß, Lucy greift aus Reflex die Hand ihres Sitznachbarn rechts, er lächelt beschämt, sie lächelt entschuldigend. Unangenehm. Danach verläuft alles ruhig, innerhalb kürzester Zeit wird die Kabinentemperatur um 20 Grad gesenkt, wie stark ihr Immunsystem ist, wird sich dann am Montag rausstellen. Lucy versucht zu schlafen, die grellen Displays ihrer Sitznachbarn (Excel rechts, TikTok links) halten sie davon ab.
Gelandet, schnell raus, wobei schnell relativ ist. Beträgt die Flugzeit weniger als zwei Stunden, dauert alles andere eine Ewigkeit. Lucy muss zum Gepäckband und die nächste Challenge wartet bereits: Den richtigen Zug finden. Kurzes Update mit der Freundin, die sie schon vor Stunden erwartet hat. Der Tisch wurde nach hinten verschoben. Wieder vergeht fast zwei Stunden, in der sie erst Land, dann Stadt, dann endlos viele Bahnhöfe sieht. Bis zuletzt ist nicht klar, ob sie im richtigen Zug sitzt.
Um kurz vor 22 Uhr kann sie ihre Freundin endlich in die Arme schließen, aber nur kurz. Die vielen Outfits müssen im Koffer bleiben, duschen geht auch nicht mehr, weiter geht’s zum Abendessen. Die anfängliche Euphorie über die Reise und das Wiedersehen werden innerhalb kürzester Zeit von Müdigkeit verdrängt. Lucy sitzt jetzt erschlagen am Tisch, lässt sich noch in eine Bar schleifen, möchte aber eigentlich nur noch nach Hause. Ins fremde Bett.
Samstagmittag. Die drei Gläser Wein von gestern Abend gehen nicht spurlos an ihr vorbei, etwas angeschlagen sitzt sie auf dem Sofa und weiß, dass sie eigentlich aktiv werden müsste. Eine Mischung aus Tatendrang, schlechtem Gewissen und Müdigkeit überkommt sie. Lucy ist gestresst. Fürs Frühstück stellt man sich eine Stunde an, es folgen Spaziergänge, Schlendern, Bahnfahrten, Cafés und ein Besuch im Pub. Der Abend zieht sich in die Länge. Restaurant, Bar und doch spontan in den Club. Obwohl sie am Sonntag erst spät wieder fliegt, stellt sie panisch mehrere Wecker.
Sonntagmittag. Aufwachen im fremden Bett und noch schnell, was erleben, damit sich die Reise auch gelohnt hat. Schnell, schnell, die Zeit ist gegen Dich. Packen, mit dem Koffer durch die Stadt laufen, wieder anstehen fürs Frühstück. Danach schleppt man sich lethargisch von Café zu Café und aus schlechtem Gewissen in irgendein Museum. Lucy bereut jetzt, dass sie übermotiviert den späten Flug gebucht hat. So richtig entspannen kann man ja doch nicht, der Tag kommt einem auf einmal unendlich lang vor und trotzdem fühlt man sich immer ein bisschen wie auf der Flucht. Auch ihre Freundin findet den Besuch langsam mühsam, schickt Lucy etwas früher zum Bahnhof als nötig. Sicher ist sicher.
Irgendwie erleichtert und mit Vorfreude auf die eigene Wohnung tritt Lucy die Odyssee zum Flughafen an. Alles geht schneller und sie ist ruhiger als bei der Hinreise. Was sie erleben wollte, hat sie erlebt, die Angst, die Party zu verpassen, sitzt ihr nicht mehr im Nacken. Während das Flugzeug abhebt, hört Lucy Oasis und schließt die Augen. Sie lässt sich fallen, der Mund ist schon leicht geöffnet, da kommt die Ansage: mehrere Unwetter über Deutschland. Mit dem Schlafen wird es wieder nichts, stattdessen übertönt ihr Herzschlag die Musik. Die ersehnte Entspannung bleibt aus. Lucy ist müde und hat eine anstrengende Woche vor sich, ihre Oma konnte sie wieder nicht anrufen. Um Mitternacht betritt sie ihre Wohnung, der Müll steht noch im Flur. Nächstes Wochenende geht es nach München.
Ein paar Monate später, es ist wieder Freitag. Wie auch nächstes Wochenende und das darauf wird Lucy in Berlin bleiben. Der Gedanke, nicht frei entscheiden zu können, deprimiert sie. Die Vorstellung, sich unter Zeitdruck durch einen überfüllten Flughafen zu bewegen, ist auch nicht besser. Diese vielen Menschen und Viren, der fremde Schweiß, die ungewaschenen Hände, ständig irgendwo ein Husten, so wie damals, als es weder Masken noch Abstandsregeln gab, das alles findet sie grauenhaft. Die Bilder lösen Stress in ihr aus. Das alles für zwei Tage oder drei? Wann ist Reisen noch Urlaub?
Wir suchen den Ausgleich und fühlen uns verpflichtet, unsere unbeschränkten Möglichkeiten zu nutzen, alles mitzunehmen, was geht. Wie bei allem verlieren wir auch hier schnell das Maß. “Nein”, sagen wir ungern. Auf Instagram reist immer einer mehr als Du, weiße Strände und saftige Pancakes sorgen für FOMO und Fernweh. Während wir diese Trips unternehmen, um von der Woche runterzukommen, nutzen wir die Woche immer mehr zum Runterkommen. Gesund ist das nicht und am Ende des Tages sollten wir uns fragen, wie viel Genuss in diesen Highlights noch steckt. Und was wir zum sozialen Überleben wirklich brauchen. Auch zu Hause wurden alle Highlights gecancelt. Aber vielleicht ist ja zu Hause sein jetzt das Highlight.
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