Nächstes Jahr fliege ich in die Karibik. Mit diesem Satz hat sich Lucy in der Vergangenheit nicht nur ein Mal vom bevorstehenden Weihnachtsfest distanziert. Mit zunehmendem Alter, wachsender Kaufkraft und der Tabuisierung eines Großteils des üblichen Fragenkatalogs enden die eigentlich so besinnlichen Feiertage oft in Streit und Chaos unterm Weihnachtsbaum. Doch dieses Jahr ist alles anders und Lucy fragt sich: War ich undankbar?
Lucy fliegt nicht in die Karibik. Und trotzdem bleibt sie dem Familienfest fern, nicht freiwillig, sondern zum Schutz der betagteren Verwandten. Die Entscheidung fiel sehr kurzfristig, man hat sie einfach wieder ausgeladen, so schnell geht das, sie habe ja jemanden, mit dem sie feiern könne und das stimmt irgendwie auch. Lucy zeigt Verständnis, ihr Koffer war noch nicht gepackt. Jetzt sitzt sie da, am Morgen von Heiligabend und wartet auf ihr erstes Weihnachten alleine, mit Paul. Beide haben ein anstrengendes Jahr hinter sich, die Planänderung kommt nicht ungelegen. Sie werden den Abend gemeinsam auf der Couch verbringen: im Pyjama, mit Weihnachtsfilmen und einer Flasche Champagner.
Paul telefoniert, Lucy sitzt erwartungsvoll am Frühstückstisch und starrt aus dem Fenster. Ihre Gedanken schweifen ab. Es ist ruhig. Wie oft hat sie sich diese Ruhe gewünscht? Unter anderen Umständen säße sie jetzt in großer Runde beim Weihnachtsbrunch und wäre damit beschäftigt, übergriffige Kommentare zu ihrem beruflichen Werdegang abzuschmettern. Außerdem hätte der neugierige, aber wohlwollende Onkel Gustav mit Sicherheit noch ein wichtiges Feedback zu ihrer Aktivität in sozialen Netzwerken abzugeben. Seit auch er das Internet für sich entdeckt hat, ist niemand mehr sicher, vor allem aber die Kommentarfunktion hat es ihm angetan. Wie passend. Währenddessen stünde ihr Vater durchgehend und auch durchgehend motiviert am Ofen. Nicht nur, um die Entwicklung des Weihnachtsbratens fotografisch festzuhalten, sondern vor allem um seine Schwiegermutter mit dem Satz “viele Köche verderben den Brei, “ unsanft aus der Küche zu entfernen.
In Berlin sitzen Lucy und Paul jetzt vor ihren weihnachtlich mit Spekulatius getoppten Oatmilk-Porridge-Bowls und reden, worüber sie sonst auch immer so reden. Richtig kommunikativ ist Lucy ohnehin nicht, irgendwas fehlt. Nach dem Frühstück setzt sie sich wie sonst auch ins Schlafzimmer, um Geschenke zu verpacken. Genauer, ein Geschenk. Zum ersten Mal wird ihr klar, dass Chaos nicht nur Stress bedeutet. Falsches Geschenkpapier, Tesafilm alle, keine Schere im Haus. Das alle treibt sie an einem 24. Dezember in den Wahnsinn. Und auch die speziellen, aber nicht besonders konkreten Wünsche ihrer Verwandtschaft haben es in sich. Verschwitzt und genervt, als stünde sie unmittelbar davor, einen Flug zu verpassen, geht es oft kurz vor Schluss noch mal ins übervolle KaDeWe. Man weiß zwar nie so richtig, was man dort kaufen soll und das Geschenk wirkt am Ende immer ein bisschen provisorisch, aber die schwarz-weiße Tüte wertet den Inhalt immerhin und in jedem Fall auf.
In die Kirche kann man dieses Jahr nicht wirklich gehen und für einen online Gottesdienst reicht Lucys alljährlicher Opportunismus nicht aus. Es gilt eine Lücke zu füllen. Deshalb schieben die beiden Millennials noch eine Aktivität ein, gegen die sie sich ihrer stetig abnehmenden Coolness zuliebe bis zum heutigen Tag erfolgreich wehren konnten: Kaffee und Kuchen. Es folgt ein langer Spaziergang, bis Couchnachten endgültig eröffnet ist.
Lucy’s Mutter ruft an. Man kann die Hektik durchs Telefon spüren, die entscheidende Phase im Ofen wurde soeben eingeläutet. Zwar feiert man dieses Jahr in abgespeckter Runde, kulinarisch scheint man sich zu Hause aber nicht einzuschränken. Das finale Geschmackserlebnis wird jetzt definiert und so auch die Laune aller nicht gecancelten Gäste. Das Telefonat muss frühzeitig beendet werden, schließlich dürfe jetzt kein Fehler passieren. Lucy legt auf, grinst und erinnert sich an ein Gefühl, das sie so nur von Weihnachten kennt.
Steht der Braten erst mal auf dem Tisch, setzt man sich wieder, keiner hat mehr Hunger, aber das ist egal. Endlich kannst Du durchatmen. Das Jahr liegt hinter Dir, egal, wie gut oder wie schlecht oder noch schlimmer: wie mittelmäßig es war. Die Last fällt für einen Moment von Deinen Schultern, auch die Pläne und die Ziele und die To-Do’s für die nächsten 12 Monate sind noch kein Thema. Du sitzt einfach nur da, dümmlich grinsend, in einem angenehmen Limbus zwischen abgehakt und noch nicht angefangen. Und Du hast es Dir verdient. Es kehrt Ruhe ein und Du musst nicht träumen, denn Du bist im Hier und Jetzt.
Mit der Bescherung endet auch die Ruhe, zufrieden schleppen sich alle zum Weihnachtsbaum. Eine Mischung aus Dankbarkeit und gespielter Dankbarkeit liegt jetzt in der Luft, man freut sich darüber, dass andere sich freuen.
Auch Lucy und Paul haben sich gerade ihre Geschenke überreicht. Ehrliche Freude steht ihnen im Gesicht. Es ist gemütlich, warm und irgendwie auch lustig, Weihnachten zu zweit. Lucy ist dankbar für das, was zu lange zu selbstverständlich war, dankbar dafür, in diesem Jahr etwas vermissen zu können. Nächstes Weihnachten werden Lucy und Paul wieder mit ihren Familien feiern, das steht fest. Mit diesem Wissen und ihren dicken Wollsocken starten sie in einen besinnlichen Abend zu zweit, melancholisch-hoffnungsvoll, aber auf jeden Fall zufrieden und dankbar in die Zukunft blickend und genießen das ganz andere Weihnachten, zusammen alleine.
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