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Januar-Blues

Ein Tag im Berliner Januar, grau in grau. Tulum gibt es bei Lucy höchstens als Puzzle, selbst ihre Tagträume langweilen sie heute. Als sie merkt, dass sie die Routinen ihrer Nachbarin im Haus gegenüber kennt, weiß sie, dass es Zeit ist, die Wohnung zu verlassen. Lucy begibt sich auf eine Reise durch die eigene Stadt, auf die Suche nach visueller und gedanklicher Abwechslung.


Es beginnt ein langer Spaziergang. Ziele gibt es genug. Viel zu selten fühlt sich Lucy als Tourist, dort, wo sie wohnt, nimmt die Orte, für die andere aufwendig anreisen, schon lange nicht mehr bewusst wahr. Sie liebt das Schöne wie das Heruntergekommene. Du bist so wunderbar, Berlin, Du kannst so hässlich sein.


Lucy läuft zur Museumsinsel. Imposante Gebäude beherbergen Museen und Theater, Kunst und Kultur, die Hochburg der Systemirrelevanz. Sie schläft. Hier kann man sich nicht zu Hause fühlen, zu eindrucksvoll ist das, was man sieht und auch das, was man sehen könnte. Es ist die einfachste Städtereise, die man machen kann. Kein Brunch, keine Party, eine Reise ganz ohne Konsum. An diesem Ort schlendern normalerweise Touristen durch die Epochen, heute rennen nur ein paar Einheimische vorbei.


Zum Regierungsviertel ist es nicht weit, zumindest nicht, wenn man sich an Berlin gewöhnt hat, eine Stadt, die Zentrum ist, aber kein Zentrum hat. Nichts ist um die Ecke. Wie schaffen die Zugereisten das nur? Der Weg ist schön, dann hässlich, dann wieder schön. Unter den Linden ist es ungemütlich geworden, seit es keine Linden mehr gibt, dafür aber eine neue U-Bahn Linie, das Baumschlachten hat sich wohl gelohnt.


Am Brandenburger Tor fragt sich Lucy, wie hier mal Autos durchgepasst haben sollen. So richtig kann sie sich das nicht vorstellen. Die Durchgänge erscheinen winzig, verglichen mit der Distanz zur Goldelse, zum Stern, zur Siegessäule.


Zwischen Reichstagsgebäude und Kanzleramt kommt Lucy sich schrecklich unwichtig vor. Hier weiß sie aber auch, warum sie in Berlin wohnt. In dieser Stadt spielt sich alles ab. Man ist mitten im Geschehen, alles kann, nichts muss. Ein paar Meter weiter sitzen Kanzlerin und Anhang und bestimmen über unser Leben. Sie treffen Entscheidungen für uns, von denen wir später nur lesen werden. Zwischen den großen Gebäuden fühlt Lucy sich klein, die Weite aber, die freie Sicht, der Hauptbahnhof im Hintergrund, das alles beruhigt sie, sowas gibt es in München nicht. Das Reichstagsgebäude, historisch wertvoll, der Bundestag, auch Bushido weiß das, er hat hier schon ein Praktikum gemacht. Das war 2012, eine Zeit, in der man schon lange “mein Kiez” und nicht mehr “mein Block” sagte. Als Sido bereits von “damals, als ich jung und wild war” sang, statt mit Schimpfworten um sich zu werfen.


Der Tiergarten ist überall, so richtig weiß man nie, wo er anfängt und wo er aufhört. Lucy hat ihn nicht verstanden, ein bisschen verloren fühlt sie sich immer, zu Hilfe eilen würde ihr dort wahrscheinlich niemand. Er ist die schönste Verbindung nach Charlottenburg. Vom Ku-Damm hat sich das Leben noch nicht verabschiedet, zumindest im Vergleich zu anderen Teilen der Stadt. Ein Gang durch die Alte Schönhauser Straße ist gruselig, fühlt sich an wie mit der Virtual Reality Brille im Endzeitfilm.


Kreuzberg macht da schon mehr Spaß. Am Kotti fühlt sich Lucy wie eine 4Blocks Komparsin. Irgendwie wünscht sie sich auch, dass mal wieder was passiert, ihre Fantasie kennt keine Grenzen diesen Tagen. Die verschlossenen Klubtüren fallen gar nicht auf, tagsüber sind die Eingänge ohne Menschen ohnehin nicht wiederzuerkennen, sehen so harmlos aus, so unauffällig. It’s a trap. Ihr Herz schmerzt. Lucy hat weder Podcast noch Musik in den Ohren, nur das Hupen, das Meckern und den Lärm der oben fahrenden Untergrundbahn.


Überall ists anders, nur die Spree sieht aus, wie sie immer aussieht. Am Wasser tummeln sich die Menschen, jetzt und vorher auch schon, warum eigentlich? Das Wasser ist Kontrast zum Alltag, selbst die braune Pampe gibt uns ein Gefühl von Natur und Natur ist Freiheit. Die Spree ist das visuelle Gegenteil einer Krombacher Werbung, irgendwie nicht frisch.


Es wird dunkel, es ist kalt, Lucy wandert langsam nach Hause. Cafés und Klos sind geschlossen. Es tut gut, heute mal nicht am Leben eingesperrter oder ausgebrochener Influencer teilgenommen zu haben. Raus muss sie heute nicht mehr, auch das Handy bleibt aus, damit die Eindrücke noch eine Weile anhalten, immerhin das Handy. Später schaltet den Fernseher ein und zuckt ein paar Mal zusammen, keiner trägt eine Maske im Supermarkt, Menschen halten sich in Gruppen auf.






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