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Über Leben als Frau

Wir sind weit gekommen. Nicht überall.


Im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern bleibt Berlin am 8. März zu Hause. Der Internationale Frauentag ist seit drei Jahren ein gesetzlicher Feiertag. Das liegt nicht daran, dass Frauen in Berlin mehr Wertschätzung erfahren als in anderen Teilen Deutschlands. Berlin, die Stadt, in der niemand an irgendetwas glaubt, hat zu wenig Feiertage.


In den letzten Jahren fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt, Lucy hat nie eine besucht. Die größte Veranstaltung zum Frauentag im Jahr 2019 zählte rund 12.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sie scheint also nicht die Einzige zu sein, die ihr Engagement geschwänzt hat. Dabei fehlt es nicht an Themen, Ungleichberechtigung oder Dringlichkeit, sondern an ernsthaftem gesellschaftlichen Interesse. So wirkt es zumindest.

Hat es der Kampf um Quoten, Gehälter und Vorstandsposten immerhin in die Öffentlichkeit geschafft, sieht es an anderer Front finster aus: Es geht um Sexismus, um sexuelle Belästigung und um sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Überall passiert es, einmal, mehrmals, immer wieder. Kein Bildungsgrad, kein Kontostand, weder Haut- noch Haarfarbe, Vor- oder Nachname können sie schützen. Es betrifft jede Frau, weil es jede Frau treffen kann und viele schon getroffen hat.


Lucy und ihre Freundinnen glaubten lange, selbst noch nie eine solche Erfahrung gemacht zu haben. Doch fängt die erste an zu sprechen, öffnet sich ein schwer einzugrenzender Abgrund, sie treffen auf Situationen, die schmerzen und wütend machen, auf Kommentare und auf Übergriffe, verbale und körperlich und auf so viel mehr. Da sind Grauzonen und Grenzüberschreitungen und die Sprachlosigkeit für das, was vermeintlich immer nur den anderen passiert.


In den Augen ihrer Gesprächspartnerinnen sieht Lucy Zerrissenheit. (Falschen?) Stolz (der sie davon abhält, etwas zu unternehmen?), Angst. Sie sieht Hilflosigkeit, gepaart mit Stärke (das Geschehene und Geschehende alleine in den Griff zu bekommen), das Hadern über den Kontrollverlust, über das Entgleiten der eigenen Gedanken und Gefühle. Sie hört Relativierungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen. Nur eines sieht Lucy nie: Konsequenzen. Und zwar für die, die zerreißen und kränken, die Frauen schwach sehen wollen, für die, die eindringen, in das Intimste, in den Körper und in die Seele.


Wenn Lucy sich mit Frauen unterhält, jung, alt, bekannt oder befreundet, dann hat jede eine Geschichte zu erzählen. Wenn sie das Glück hatten, nicht selbst "Opfer" sexueller Belästigung, Gewalt oder deren Vorboten gewesen zu sein, fällt ihnen eine Stellvertreterin ein. Keine Geschichte endet mit dem Gang zur Polizei. Was im Dunkeln passiert, soll im Dunkeln bleiben. Denn das, was folgt, scheint für viele Frauen schlimmer, als das Geschehene mit sich selbst auszumachen, in einem System, das Betroffene zu Opfern und noch schlimmer, Betroffene, deren Geschichten vor dem Richter mit "im Zweifel für den Angeklagten" enden, zu Lügnerinnen macht.


Die Leute lesen Fifty Shades of Grey, bestellen Womanizer und Analplugs, sie hören an einem Tag den Sex Podcast und am anderen True Crime auf Spotify. Sie wollen Tabus nicht nur brechen, sondern zelebrieren, geben sich bewusst kinky, kultivieren ihre Offenheit, weil es cool ist. Wenn es aber um diesen einen Typen im Freundeskreis geht, der sich angeblich nicht ganz Kontrolle hat - hört man zumindest immer wieder - (Ist dem nicht mal die Hand ausgerutscht? Hat er sie wirklich mit nach Hause genommen? Sie war doch so betrunken!") ...dann werden alle ganz ganz still, weil "wir waren ja nicht dabei!".


Wenn Lucy Schritte hört, dreht sie sich um, bei Tag und bei Nacht. Natürlich läuft sie spät nicht alleine durch den Park. Im Taxi behält sie das Handy in der Hand. Lächerlich. Denn der Feind ist ja meistens nicht der Fremde, der Unheimliche in der Dunkelheit. Es ist der Vertraute. Der Vertraute im Hellen, der im Dunkeln bleibt.


Einmal nein heißt nein, um vier Uhr morgens wie um drei Uhr mittags, alkoholisiert oder nüchtern, im Mini-Rock und in Jogginghose.


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