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Nichts Wissen

Auf den Spuren der Millennialverdummung


Kommentierst Du noch oder postest Du schon? Jeder möchte Meinung machen in einer Generation, die ihre Argumente auf Headlines stützt. Neben denen, die sich bewusst raushalten, gibt es auch noch die, die sich im Moment ganz besonders herausgefordert fühlen, politisch zu werden. Die daraus resultierenden “Debatten” zeigen, wie es ist: Keiner weiß was, alle reden mit. Das beobachtet Lucy nicht nur in sozialen Netzwerken oder bei sich selbst. Kann die Krise helfen?



Lucy kommt nach einem weniger langen Arbeitstag nach Hause, man könnte auch sagen vom Arbeitszimmer in die Küche. Genervt hört sie dabei zu, wie Paul und ein Freund, der ebenfalls Paul heißt, das politische Weltgeschehen kommentieren. Es wird hitzig diskutiert, Lucy merkt schnell, dass hier gefährliches Halbwissen auf gefährliches Halbwissen stößt. Beide scheinen länger keine Zeitung aufgeschlagen zu haben. Sie werfen mit Themen und Push-Benachrichtigungen um sich, mit Headlines, zitieren höchstens mal eine bereits gefilterte Meinung. Die kurzen Stimulationen haben sie voll im Griff. Meldungen ohne Text, hasserfüllte Kommentare, die Empörten und die Hobbyrichter, Sherlock Internet, alle digitalen Emporkömmlinge, die man nicht so richtig zuordnen kann, meistens sind sie dagegen, bieten den Nährboden für vermeintliches Wissen. Nicht nur bei Paul und Paul.


Gefährliches Halbwissen bzw. Nichtwissen ist nicht nur ein Millennialproblem. Die wiederum neigen aber ganz besonders dazu, ihre oder auch die Gedanken anderer in sozialen Netzwerken zu teilen, sich zwanghaft zu positionieren, natürlich politisch korrekt, denn jeder Follower zählt, und wenn doch nicht, kommt schnell eine Entschuldigung hinterher. Hauptsache mitreden. Wenn zwei, die keine Ahnung haben, sich unterhalten, dann ist das ja nicht schlimm. Wenn allerdings 500 andere, die ebenfalls keine Ahnung haben, mitlesen, mitgucken oder mithören, dann ist das nicht mal mehr unterhaltend.


Paul und Paul regen sich nur auf. Konstruktive Gedanken trauen sie sich nicht, schon gar nicht öffentlich, sehen ein, dass dann doch die ein oder andere Information fehlt. Deshalb stellen sie lieber an den Pranger, am liebsten solche, die schon von irgendwem anders an den Pranger gestellt wurden. Sie tun dies also nicht selber, sie schließen sich lediglich an. Sie canceln nicht, sie co-canceln.


“Auch wir können canceln”


Wenn Lucy nicht mehr weiß, gegen wen man sich aktuell zu verbünden hat, kann sie das inzwischen auch bei Influencern rausfinden. Die können nicht nur Morgenroutine, sie bedienen ihre Follower neuerdings auch mit Statements (weil so viele gefragt haben). Und falls es nicht für ein eigenes reicht, gibt es zum Glück noch den Repost Button, der ist schnell geklickt. Alternativ informieren sie einfach darüber, wie man sich informiert. Informieren übers Informieren. Schnell wird klar, die Gen(WH)Y hinterfragt zwar viel, kennt in der Regel aber wenig Antworten. Das ist schade, wird doch mehr gesprochen als je zuvor.


Eine gesunde Alternative wären Meinungen, die auch mal begründet werden. Findest Du einen Politiker, eine Bewegung, ein Statement cool, weil alle das cool finden? Weil es politisch en vogue ist? Willst Du Teil der Masse sein? Oder weißt sogar wirklich, was dahinter steckt?


Die Krise als Chance?


Die Chancen stehen gut, dass der ein oder andere Millennial bis zum 26. September zur Abwechslung mal ein Wahlprogramm gelesen hat. Nie fühlte sich Lucy so abhängig von der Regierung, so fremdbestimmt, so ausgeliefert wie in der Pandemie. Das gibt Anlass zum Interesse. Nicht nur Corona News, #bidenharris oder der CDU-Parteitag haben es auf die Entertainment Agenda geschafft. Auf einmal hat Lucy Lust, ein bisschen mehr einzusteigen, nicht immer nur Ausschnitte zu lesen, sondern auch mal das ganze Interview, eine Begründung oder die Vorgeschichte. Die Krise zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur mitreden zu wollen, sondern auch mitreden zu können. Und damit ist nicht Clubhouse gemeint.


Late to the Party


Vier Wochen später hängt Lucy trotzdem noch auf der neuen Plattform rum, ist live dabei, wenn Gesagtes wiederholt wird oder Gruppen, alle woke und vermeintlich tolerant, sich gegenseitig in ihren Ansichten bestärken. Kollektives sich Recht geben. So sieht es aus, wenn die nichtmal-pseudointellektuellen “debattieren”. Die Beförderung vom Nutzer zum Speaker erfolgt auf Clubhouse bedingungslos. Jeder, der meint etwas zu meinen, kann sich an die Öffentlichkeit wenden und tut es auch. Das sind neben den üblichen Politikern, Journalisten, Influencern und der Start-Up Crowd dann auch noch alle anderen. Wer sich aufgrund und gleichzeitig zu Lasten seiner mangelnden medialen Reichweite bisher noch in Zurückhaltung übte, sollte mittlerweile aufgesprungen sein.


Auch Lucy redet öfter mal mit, obwohl sie keine Ahnung hat. Statt sich rauszuhalten, wirft sie alles in den Raum, was sie aufschnappen konnte. Einfach mal polarisieren, dabei geht es oft gar nicht um das Thema selbst, viel mehr darum, dafür oder dagegen zu sein, sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Informationen gegen den Gesprächspartner durchzusetzen. Dann trifft wieder mal gefährliches Halbwissen auf gefährliches Halbwissen, Headline auf Headline. Es ist ein bisschen besser geworden. Ob das an den fehlenden Aktivitäten oder am wachsenden Interesse an der eigenen Zukunft liegt, kann sie nicht sagen.


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