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RIP Hangover Sunday

Vor knapp einem halben Jahr war ein Hangover das schlimmste, was dem Durchschnittsmillennial an einem Sonntag passieren konnte. Dumpfer Kopfschmerz, flauer Magen und verschwommene Erinnerungen waren die gerechte Strafe für das, was wir am Vorabend erlebt haben. Acht Monate später wünschen wir uns diese Symptome zurück. Denn sie bedeuten vor allem eines: Wir hatten Spaß! Ein Tribut an den Katertag.


Oktober 2019


Es ist Sonntag, langsam erwachst Du aus einem extrem angenehmen Tiefschlaf. Das Gefühl des Aufwachens wirkt bedrohlich. Du versuchst, es so lange wie möglich hinauszuzögern, schließlich musst Du die Augen öffnen. Langsam. Eine halbe Minute lang bist Du völlig orientierungslos, könntest nicht eine der sieben W-Fragen beantworten. Alles ist noch möglich. Jetzt entscheidet sich, ob Du den ganzen Tag komplett euphorisch oder komplett niedergeschlagen sein wirst. Scheiße, der Kopf. Dann kommt die Erinnerung. Langsam hangelst Du Dich von einem Schlüsselmoment zum nächsten, Details werden später im Kollektiv geklärt. Du fragst Dich, wie spät es wohl ist und ahnst, dass der gemeine Bürger schon vor über drei Stunden geduscht zum Brunch angetreten ist.


Du scheinst Dein Leben mehr im Griff zu haben, als Du denkst. Es ist erst 11 Uhr. Auf keinen Fall möchtest Du jetzt etwas tun, worauf Du keine Lust hast. Du hast auf nichts Lust. Deshalb bleibst Du liegen, alle Verabredungen werden abgesagt, “fühl mich nicht so”. Der Sonntag ist heilig, es ist der zwangloseste Tag der Woche. Sonntagsverabredungen bereiten Dir wahnsinnig schlechte Laune. Schon am Freitag beim ersten Drink nervt Dich der Gedanke, Samstagnacht einen Wecker stellen zu müssen. Spätestens am Sonntag selbst fühlst Du Dich aber so richtig fremdbestimmt. Der Albtraum eines jeden Millennials, das Unwort unserer Generation. Fremdbestimmt geht gar nicht.


Alle Verpflichtungen gecancelt, jetzt erst mal kurz chillen. “Einen Yogitee und schon gehts mir besser”, denkt Dein fünf Jahre jüngeres Ich. So läuft das aber schon lange nicht mehr. Bevor es zum Kühlschrank geht, musst Du einen Stopp an der Medikamentenschublade einlegen. Du zögerst, schließlich hast Du Deinen Zustand selbst verschuldet, Strafe muss sein. Heute siehst Du das anders, bedienst Dich Deiner Hausapotheke und hältst Dich dabei an die wichtigste Regel: Viel hilft viel. Die gilt eigentlich für alles, außer für Wasser. Denn das hat Dir Deine Mutter eingeredet, damals, nach Deinem ersten Vodka Red Bull Absturz. Irgendwie macht es ja Sinn, trotzdem ging es Dir mit literweise Wasser im Bauch noch nie wirklich besser. Ein paar Schritte weiter folgt die totale Ernüchterung. Oatly Barista Edition, Cashew Mus und lokal angebautes Gemüse sind echt das letzte, worauf Du Dich jetzt einlassen kannst. Du musst also doch raus.


Die Einzigen, die Du sehen möchtest, sind die, die auch dabei waren. Du läufst in Deiner Wohnung rum, versuchst, Dich anzuziehen, schlafen kannst Du jetzt eh nicht mehr. Du wirst nervös, kriegst nichts auf die Reihe, unternimmst dreimal den Versuch loszugehen, immer wieder vergisst Du etwas. Deine Wohnung wird zum Escape Room. Den Leichen vom Vorabend geht es ähnlich, ab 15 Uhr bewegt man sich also gemeinsam unter die Anständigen und Gepflegten. Ihr wählt eine szenige Location mit möglichst wenig Kinderwagen und feiert und bemitleidet Euch gegenseitig. Es gibt viel zu berichten. Der anrückende Montag verbreitet Unmut und Systemhass. Das schweißt zusammen. Ihr nehmt Euch vor, jetzt öfter GENAU IN DIESER KONSTELLATION auszugehen. Dann bestellt Ihr Bloody Maries oder fettiges Essen, in jedem Fall aber viel zu viel davon, alles ist egal.


Du weißt jetzt schon, wie Du morgen aussiehst und, dass Du Dich erst am Mittwoch vollständig regeneriert haben wirst. Noch bist Du wach, aber gleich wirst Du müde. Denn auch der letzte Shot vom Vorabend hat jetzt Dein System verlassen, Du baust ab. Dir ist schlecht, es war alles zu viel, vielleicht wäre Wasser doch keine schlechte Idee gewesen. Bald ist alles rekonstruiert, erzählt, die Ersten verlassen den Laden. Das, was Du heute Morgen noch selbstbewusst als “extrem coole Aktion” eingestuft hast, wird Dir immer peinlicher. Vielleicht bist Du doch nicht so ein Boss, wie Du denkst. Jetzt spürst Du, wie sich was anbahnt, schleichend, draußen ist es dunkel geworden, obwohl es gar nicht spät ist. Du blickst ihr ins Auge.Sie ist der Endgegner im Hangover Game und sie lässt sich nicht weiter aufschieben: Die Partydepression.


Oktober 2020


Lucy war noch nie so klar. Das Einzige, was schlimmer ist als eine Partydepression, ist die Keine-Party-Depression. Letztes Jahr warst Du noch mit Ihr unterwegs, jetzt seht Ihr Euch kaum noch. Lucy ist unfreiwillig abgetaucht, viel mehr wurde sie abgetaucht. Danke für nichts, Corona. Genau wie alle anderen sonst so freiheitsliebenden Millennials bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Kürbissaison vorzubereiten. Denn sein wir ehrlich: Banana Bread kann wirklich niemand mehr sehen.


Es ist Sonntag, Lucy dreht sich zum hundertsten Mal um. Sie schaut auf ihr Handy, 9 Uhr morgens, mitten in der Nacht. Offensichtlich hat sie genug geschlafen, kein Wunder, schließlich lag sie gestern um 12 Uhr im Bett. Doch Lucy wird nicht aufstehen, nicht am Sonntag. Vor ein paar Monaten wäre ihr so etwas nicht passiert. Damals, in Zeiten von unbeschränkten Kontakten und sozialer Nähe. Lucy sehnt sich nach ihrer Freiheit, träumt vom Reisen und vom spontan sein. Sie möchte ihre Freunde in die Arme schließen, jede weitere Kontaktbeschränkung versetzt ihr einen Stich ins Herz. Sie ist sich ihrer privilegierten Situation bewusst, ihr geht es so viel besser als so vielen anderen Menschen in dieser Zeit. Und trotzdem packt sie die Schwermut. Ihre Gedanken treiben durch eine Zeit ohne Maske, als es ihr größtes Problem die FOMO war und Paris nur zwei Stunden entfernt war.


Während viele ihrer Freunde sich über den Tag freuen, vermisst Lucy die Nacht. Statt zum Brunch wollen sie sich jetzt alle zum Frühstück treffen. Lucy aber liebt die Geschichten, die passieren, wenn es dunkel ist. Dann wirkt alles so ruhig und doch ist viel los. Die Dinge, die in Erinnerung bleiben, passieren nicht beim Frühstück. Lucy realisiert, dass ihr Wochenende sich nicht mehr von der Woche unterscheidet, dass das Highlight fehlt, dass die Entspannung nicht unbedingt mehr Energie bringt. Das schlimmste, was ihr an einem Sonntag jetzt passieren kann, ist nicht mehr der Hangover, sondern dass es keinen Sonntag mehr gibt.


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